Sonntag, 25. August 2019

Eine Parallelwelt: das Leben

Nach einer sternenklaren, milden Nacht, in der ich sehr gut geschlafen habe, wache ich erst spät auf und genieße außerdem noch mein volle Wellnessprogramm. Die Sonne scheint noch nicht über den Berg oder die Bäume, aber ich liebe ja sowieso eher die Kühle. Ja, ich habe gestern viel zu lange Videos angeschaut, aber der Stoff war spannend und ich möchte ja etwas lernen.

Ich bin heute in einem etwas sonderbaren Modus...
Ja, Reisen ist schön, ist herrlich und abenteuerlich. Es ist so spannend, fremde Länder und Menschen kennenzulernen, andere Sitte zu erfahren, fremde Landschaft, Fauna und Flora zu erleben. Aber - dahoam is au schee (daheim ist es auch schön)! Man weiß es irgendwie selten zu schätzen. Bei meinen geringen Geschwindigkeiten kann ich die Landschaft mit allen Sinnen in mir aufsaugen und sie wirken lassen, länger wirken lassen. Das ist Leben! Es erhält Anregung von außen, aber findet im Inneren statt. In meinem "normalen" Leben, verpasse ich das - in Hast und Eile werden alle möglichen Aufgaben und Tätigkeiten effizient erledigt, Zeit für Wachstum ist da nicht.
Meine Gedanken arbeiten wieder...

Übermut, Leichtsinn oder Gleichgültigkeit? Eine Asphaltkante läuft entlang der Kurven-Ideallinie. Ich erwische sie genau. Die Lisl schlingert - nicht schlimm, aber Grund genug, aufzuwachen! Ich sollte die Straße nicht nur lesen, sondern auch auf ihre Worte hören! Auf den folgenden Sträßchen ist das allerdings gar nicht so leicht - mitten im Wald herrscht ein ständiger Wechsel von Licht und Schatten, da ist der Straßenbelag kaum zu erkennen. Ich muss mich auf Lisls Trittsicherheit verlassen und werde nicht enttäuscht!

Herrlich - wo sind wir da schon wieder hingeraten? Der Kurven-Navigator findet Abzweigungen, die man eigentlich gar nicht erkennt und die in eine Parallelwelt führen. Etwa so, wie die Wandschranktür zum Märchenland oder Gleis 9 3/4! Heute morgen habe ich Fern-QC (Quantenheilung) gemacht und musste eine Parallelwelt bemühen. Anscheinend bin ich nun selbst dort mitten hinein geraten. Unsere Wege führen an kleinen Bergbächlein entlang, sind eingebettet in einen sicheren Tunnel aus dichtem grünen Laub. Die Parallelwelt besteht nicht aus Abenteuer, sie ist nicht schroff, hart und krass. Sie ist lieblich, weich, sanft und entspannt.
Sie zeigt uns Hinterhöfe und ländliche Gehöfte mit den dazugehörigen Gerüchen. Man braucht hier viel länger, die Reisegeschwindigkeit ist minimal. Vielleicht gelten ja in Parallelwelten auch andere Zeitgesetze? Ich habe Zeit, alles zu erleben und wachsen zu lassen.
So soll meine Rentnertour in 2 Jahren auch aussehen!
Huch, jetzt habe ich mich doch glatt beim Lächeln erwischt! Wenn dies "das Leben" ist, was treibe ich dann die ganze Zeit zu Hause?

Wir sind auf dem Col de Luitel angekommen und stehen plötzlich vor einer Barriere. Gesperrt. Ich verstehe den langen Text auf dem Schild nicht, höre aber in der Ferne laut heulende Motoren. Da kommen gerade einnige Motorradfahrer entgegen und passieren die Barriere. Ich frage nach, ob man durchfahren kann oder darf? Na ja, ein Stück weit, dann ist die Straße gesperrt und man muss ins Tal hinunter. Ok, dann mache ich das. Ich habe ja Zeit und Umwege sind mir eher willkommen. Nach wenigen Kilometern erscheint die andere Barriere. Nach rechts ist gesperrt - großes Aufgebot. Ich vermute ein Bergrennen, aber egal, wir biegen nach links ab und kurven auf guter Straße hinunter nach Uriage. Am Rande eine Bemerkung zur Technik: die vorderen Bremsbeläge und das Vorderradprofil nehmen gehörig ab.

Uups, was ist das denn? Sieht aus wie ein Pferd von hinten. Läuft auf ein Auto zu? Oh, es ist eine Frau im laaangen gold- oder sandfarbenen Stoffumhang mit blonden Locken bis weit über die Knie! Sehr sonderbar sieht das aus!
In meiner Parallelwelt scheinen mir die gebratenen Tauben in den Mund zu fliegen - oder fast. Ein Weinberg hängt voller blauer Trauben und in der Wiese daneben haben sich ein paar Kartoffeln versteckt, die vermutlich vom Wagen gefallen sind. Da ist ja das Abendessen gesichert.

An der nächsten "größeren" Straße wird schon wieder eine Sperrung angekündigt, wegen Bauarbeiten. Soll ich die ernst nehmen? Daheim ignoriere ich solche Sperrungen oft und kann meist mit der geländegängigen Lisl trotzdem durchfahren. Also probier ich das auch hier. Die gute Fügung: an der nächsten Abzweigung ist tatsächlich eine Totalsperre, aber mein Navigator schlägt ohnehin die andere Straße vor.



Um 15 Uhr haut's mich richtig um - schlagartig werde ich sehr müde. Ich bin hungrig und durstig. Die abgelegenen Bauerndörefer haben den Nebeneffekt, dass es keine Lokale gibt, also muss ich darben. Endlich, ziemlich versteckt "Bar Restaurant", sieht um diese Zeit ziemlich leer aus. Aber eine Cola und ein Vanilleeis als Zuckerschock kann ich auf jeden Fall haben. Das muss die Zeit bis zum Abend überbrücken. Die Damen sind ziemlich überrascht über meine Fortbewegungsmethode, aber ich verstehe ja kein französisch.
Ich muss mich neu orientieren, ich bin aktuell etwas planlos. Ich bin enttäuscht über das breite Tal und die wenigen Pässe und leider auch ziemlich unentschieden,  ob ich eher nach Osten oder nach Westen ziehen soll. Da braucht man sich ja nicht zu wundern über Unzufriedenheit. Ich lasse Balduin alle Pässe in der Umgebung suchen und orientiere mich dann nach Nord-Osten. Zumindest mal für heute. Albertville können wir zwar nicht so großräumig umfahren wie Grenoble, aber immerhin vermeidet Balduin die Hauptstraßen und den Ortskern. So kommen wir ziemlich ungeschoren vorbei.
Auf dem Abweg ruft der "Col de Forglaz" - ein Berg, juhuu! Nur hinauf in die kühle Höhenluft - im Tal hat es heute ca. 31 Grad. Was, diese Abzweigung soll ich nehmen? Eindeutig ein grob geschotterter, steile Waldweg. Es steht extra angeschrieben, dass "Benutzung auf eigene Gefahr" stattfindet. Nein, das brauchen wir nicht mehr. Mit dem Kopf durch die Wand? Das war mal...
Sehr hoch ist der Berg leider nicht, aber zur Abkühlung reicht es. Und da ist auch eine Quelle - schließlich brauche ich zum Kartoffeln kochen etwas mehr Wasser. Oben auf dem Kamm gibt es zwar schöne Wiesen, die sind aber alle abgezäunt und außerdem sind überall Häuser und Höfe. Die Straße führt dann wieder hinunter Richtung Tal, hier sind die Wiesen steil, da kann ich auch nicht campieren. Ohne zu überlegen biege ich die nächste Nebenstraße einer Nebenstraße ab, und - bereits nach kurzer Fahrt taucht ein Holzstapel auf, hinter dem ein kleines, fast ebenes Wiesenplätzchen zu finden ist. Die leichte Abschüssigkeit wird heute Nacht für Freude sorgen....

Grenoble - Albertville


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